Offener Brief an Landeshauptmann Günther Platter
Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,
Ganz Tirol freut sich darüber, dass mit dem Abebben der Pandemie auch die Gäste aus dem In- und Ausland wieder unser Land besuchen und sich an dessen herrlicher Natur erfreuen können. Vor wenigen Tagen haben Sie in vielen Medien den neuen Tiroler Weg im Tourismus angekündigt. Von Nachhaltigkeit und einem Perspektivenwechsel ist da die Rede. Man wolle nicht mehr auf Masse, sondern auf Qualität setzen.
Viele Menschen glauben nun tatsächlich an einen echten Sinneswandel, der nicht zuletzt durch den tief sitzenden Corona-Schock ausgelöst worden sein könnte.
Erlauben Sie mir, Herr Landeshauptmann, einige konkrete Fragen zum propagierten neuen Tiroler Weg zu stellen:
Fast zeitgleich mit der Ankündigung eines weitreichenden Strategie- und Perspektivenwechsels wurde bekanntgegeben, dass das Land schon Anfang Mai grünes Licht für den Bau eines neuen Lifts auf das Weißjoch im Kaunertaler Gletscherskigebiet gegeben hat, der noch in diesem Jahr realisiert werden soll. Wie ist diese Vorgangsweise mit dem angekündigten Prinzip der Nachhaltigkeit oder dem schonenden Umgang mit Naturressourcen vereinbar? Wie sehr sehen Sie Ihre eigene und die Glaubwürdigkeit der Tourismusverantwortlichen durch diese widersprüchliche Ankündigungspolitik beschädigt? Wie wollen Sie die Glaubwürdigkeit wieder herstellen?
Derzeit liegen viele Anträge der Seilbahnindustrie für den Ausbau, die Erweiterung und den Zusammenschluss von Skigebieten beim Land. Hier die wichtigsten Vorhaben:
- Nauders – Schöneben
- Kaunertaler Gletscher – Langtauferer Tal
- See – Fiss / Serfaus
- St. Anton - Kappl
- Ötztal - Pitztal
- Hochötz - Kühtai
- Mutterer Alm - Axamer Lizum
- Silian - Sexten
- Spieljoch - Hochzillertal
- Axamer Lizum - Schlick 2000
- Neustift - Schlick 2000
Wie sieht der neue Weg im Umgang mit diesen Projekten aus, die mit massiven Eingriffen in die hochalpine Natur unseres Landes verbunden sind?
Das Tiroler Seilbahn- und Skigebietsprogramm spiegelt in seiner aktuellen Fassung in hohem Maß die Wünsche der Seilbahnbetreiber:innen wider. Wie könnte eine Neufassung oder Novellierung des TSSP nach den neuen, selbst verordneten Richtlinien aussehen? Würden der absolute Gletscherschutz und verbindliche Ausbaugrenzen darin enthalten sein?
In der aktuellen Ausgabe der Landeszeitung glänzt LR Johannes Tratter mit einer Erkenntnis, die längst jedes Tiroler Schulkind gewonnen hat: "Da wir nur über
12 Prozent der Landesfläche als dauerbesiedelbaren Raum verfügen, ist ein nachhaltiger Umgang mit Grund und Boden gerade in Tirol wesentlich."
Tirol ist Europameister im Bodenverbrauch. Was möchte die Tiroler Landesregierung unternehmen, um dem Wildwuchs von Zweitwohnsitzen, Chaletdörfern und Großhotels wirksam zu begegnen? Wie kann man die Befangenheit und teilweise Überforderung der Bürgermeister durch eine Verlagerung der Zuständigkeiten beheben?
Mit der Fortsetzung der bisherigen Politik wird der nächsten Generation die Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes "verbaut".
Das einzig Nachhaltige an der Erschließung weiterer Gletscher ist deren Zerstörung.
Das negative Image des Tiroler Tourismus ist hausgemacht. Die Abgehobenheit der Akteure hat wesentlich dazu beigetragen, die Einheimischen fühlen sich in vielen Fragen des Ausbaus touristischer Infrastruktur übergangen.
Herr Landeshauptmann, machen Sie Politik für die Bevölkerung und nicht für Investoren und Spekulanten, deren einziges Interesse die Vermehrung ihres Vermögens ist!
Mit naturverbundenen Grüßen,
Dr. Gerd Estermann